Geniales Bauprinzip der Natur

Internationale Forschergruppe um Wissenschaftler der Universität Konstanz belegt die Existenz von Mesokristallen erstmals in natürlicher Erscheinungsform

Der Konstanzer Chemiker Prof. Dr. Helmut Cölfen hat in Kooperation mit elf weiteren internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Struktur von Seeigelstacheln analysiert und ein von der Natur seit Jahrmillionen angewandtes Bauprinzip für High-Tech Kompositmaterialien entschlüsselt. Die Forschungsergebnisse werden nun in „PNAS“ (Proceedings of the National Academy of Sciences), einer von der Akademie der Wissenschaften der Vereinigten Staaten herausgegebenen Fachzeitschrift, veröffentlicht. In dem Artikel wird belegt, dass die Stacheln von Seeigeln aus Mesokristallen aufgebaut sind, über deren Existenz in der Natur bislang nur indirekte Hinweise bekannt wurden. Als Mesokristall beschreibt Helmut Cölfen eine kristalline Form, die aus kleinen parallel ausgerichteten Nanokristallbausteinen besteht, welche sowohl Eigenschaften eines Einkristalls als auch der Nanopartikel hat und bisher für eine Spezies gehalten wurde, die ausschließlich synthetisch zugänglich ist.

Der Professor für physikalische Chemie an der Universität Konstanz und sein Mitarbeiter Dr. Jong Seto haben im Rahmen einer fünfjährigen Forschungsarbeit durch internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Forschern der Universitäten Peking, Bristol, Leeds, Paris-Süd, Potsdam, der Bundesanstalt für Materialforschung Berlin, des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung Potsdam und der ESRF (European Synchroton Radiation Facility) Grenoble, die komplexe Struktur des Seeigelstachels untersucht und die Lösung für ein seit einem knappen Jahrhundert umstrittenen Phänomen gefunden.

Die bruchfesten Stacheln des Seeigels bestehen aus Kalk (Kalziumcarbonat), einem als Kristall harten, aber stark brüchigen Material. Während sich Kalk in der Geologie normalerweise als Kalzitkristall ablagert, widerspricht die robuste Erscheinungsform der untersuchten Stacheln den Eigenschaften von Kalzitkristallen, welche an Spaltebenen vielfach und leicht gebrochen werden können. Einerseits ergab die Röntgenanalyse der Stacheln, dass sie aus Kalziteinkristallen bestehen, andererseits konnten bei Bruchexperimenten nicht die typischen Spaltebenen eines Einkristalls gefunden werden, sondern eine raue Bruchfläche, die eher dem Bruch eines Glases oder einer Keramik entspricht.

Durch das von Helmut Cölfen aufgebaute internationale Netzwerk von Einrichtungen, die sich mit der Charakterisierung von Materialien beschäftigen, konnten die Stacheln mit Elektronenmikroskopen, verschiedenen Röntgenanalyseverfahren insbesondere unter Einsatz von Synchrotonstrahlung an zwei verschiedenen Beamlines der ESRF, Kernresonanzspektroskopie, Nano-Analysen und weiteren Verfahren genau untersucht werden. Es zeigte sich, dass das Bauprinzip des Stachels auf der Größenordnung von millionstel Millimetern (Nanometern) einer Mauer entspricht, in der einzelne Bausteine aus kristallinem Kalk (Kalzit) parallel angeordnet und mit einem Mörtel aus ungeordnetem Kalk zusammengeklebt sind. Durch diese Anordnung wird die Energie von Stößen oder Kollisionen in der ungeordneten Masse wie in einer Art Schockabsorber aufgefangen. Dabei bestehen 92 % des Stachels aus Kalzit und 8 % aus dem ungeordneten Kalk. Der ungeordnete Kalk wiederum besteht zu 99,9 % aus Kalk und zu 0,1 % aus Eiweißen. Bei einer Schichtdicke von ein bis zwei milliardstel Metern um die Kalzitnanokristalle sorgt er dafür, dass der Stachel nur schwer zerbricht. Durch die Arbeit der Forscherguppe um Helmut Cölfen wurde die Struktur dieser Mesokristalle erstmals in biologischer Erscheinungsform belegt. Dieses Strukturprinzip löst nun auch den jahrzehntelangen Disput um die Natur der Seeigelstachel – nur als Mesokristall kann der Seeigelstachel sowohl die Eigenschaften der Kalzitnanokristalle als auch der dünnen ungeordneten Kalkschicht haben, die sie umgibt.

Die große innere Oberfläche der natürlichen Mesokristalle lässt sich laut Cölfen als Bauprinzip kopieren und beispielsweise für die künstliche Herstellung von natürlichen, dünnen und bruchfesten Baustoffen nutzen, die sowohl in der Produktion als auch im Abbau ökologisch verträglich sind. „Faszinierend ist, dass die Natur selbst aus solchen eigentlich zerbrechlichen Materialien, durch eine reine Strukturierung der Materialien, Hochleistungswerkstoffe herstellen kann, die der Mensch selbst bisher nicht schaffen kann“, erläutert der Konstanzer Chemiker das weltweite Streben, von Biomineralien zu lernen. Die Forschergruppe von Helmut Cölfen an der Universität Konstanz arbeitet bereits gemeinsam mit zwei großen internationalen Unternehmen an Projekten, die sich der Herstellung von Hochleistungsbeton der Zukunft widmen.

Hinweis an die Redaktionen:

Der gesamte Artikel wird innerhalb dieser Woche unter folgendem Link zur Verfügung stehen: http://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1109243109