Prof. Dr. Helmut Cölfen

Tröpfchen für Tröpfchen

Ein Experiment an der Universität Konstanz kann nicht-klassisches Kristallwachstum nachweisen. Das Ergebnis hat Konsequenzen sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die Anwendung

Wie wachsen Kristalle? Das klassische Lehrbuchwissen sagt: Schicht für Schicht verbreiten sich Atome beziehungsweise Moleküle auf einer bestehenden Kristallfläche. Die Arbeitsgruppe Physikalische Chemie an der Universität Konstanz hat für Glutaminsäure eine Vorstufe dieses Kristallwachstums beobachten können, die diesem klassischen Wachstumsprinzip widerspricht. Demnach sind es nicht nur einzelne Atome, die sich an eine existierende Kristallfläche anlagern, sondern Nano-Tröpfchen, in denen bereits Bausteine für das Wachstum eingelagert sind. Damit könnte das Kristallwachstum, das in einer Vielzahl von Materialien und Anwendungen eine bedeutende Rolle spielt, erheblich beschleunigt werden. Dass die Bausteine in der Vorstufe flüssig sind, könnte darüber hinaus die Wirksamkeit von Medikamenten beschleunigen. Die Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Nature Communications vom 21. Juni 2017 erschienen.

Aufnahmen des Rasterkraftmikroskopes, mit dem in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Helmut Cölfen diese Vorstufe gemessen wurde, weisen unter anderem helle Punkte auf, die im Zeitverlauf immer dunkler werden, um schließlich ganz mit der Kristallfläche zu verschmelzen. Das Rasterkraftmikroskop übersetzt Helligkeit in Höhe. Je heller der Punkt, desto höher ist die Komponente, die dann zerfließt, bis sie die Höhe der Kristalloberfläche erreicht hat. Sie bildet nun eine neue Kristallschicht. „Wenn ich für eine neue Schicht Atome oder Moleküle anbringe, brauche ich sehr viele davon. Wenn ich in der Lösung aber bereits Bausteine habe, ist es möglich, mit einem Mal viele Bausteine dahin zu bringen, wo gebaut werden soll“, erklärt Helmut Cölfen das Prinzip.

Dass es diese Nano-Tröpfchen gibt, war vor dem Konstanzer Experiment nicht unbekannt. Ihr Vorhandensein wurde bereits bei Proteinkristallen gefunden – sehr großen Makromolekülen. Glutaminsäure ist dagegen eine einzelne Aminosäure, ein kleines Molekül. Dass es dieses nicht-klassische Wachstum auch hier gibt, wurde zum ersten Mal beobachtet. Der Vorgang konnte auch zum ersten Mal wirklich gemessen werden. Dass es sich dabei um einen flüssigen Zustand handelt, ist strenggenommen noch nicht bewiesen, sondern wird aus dem Verhalten der Bausteine auf der Kristalloberfläche geschlossen. „Wir glauben, dass es Flüssigkeiten sind, sonst würden die Nano-Tröpfchen nicht so zerfließen“, sagt Helmut Cölfen.

Wenn die Glutaminsäure nach diesem Mechanismus der flüssigen Vorstufe wachsen kann, könnte dies auch für andere Moleküle gelten. Helmut Cölfen denkt insbesondere an neue Formulierungen von Wirkstoffen in Medikamenten. Da sich Flüssigkeit schneller auflöst als ein Feststoff, würden derartige Medikamente schneller wirken. Mit dem Experiment der Arbeitsgruppe Cölfen lässt sich außerdem die Geschwindigkeit messen, mit der die Stufen wachsen, und daraus die Bausteine errechnen, die sich in der Flüssigkeit befinden. „Das trägt zum grundlegenden Verständnis von Kristallwachstum bei“, so Cölfen. Auch Abweichungen von erwartetem Kristallwachstum könnten damit erklärt werden.

Um die empirische Beobachtung der flüssigen Vorstufe theoretisch beschreiben zu können, müssen nun neue physikalisch-chemische Theorien des Kristallwachstums aufgestellt werden. Die entscheidenden Fragen lauten: Wo kommen diese kleinen Bausteine her? Warum werden sie flüssig? Und warum können sie eine Kristallschicht bilden? Die Arbeitsgruppe von Helmut Cölfen hat das experimentelle Material für die Theorie geliefert.

Originalveröffentlichung:

Yuan Jiang, Matthias Kellermeier, Denis Gebauer, Zihao Lu, Rose Rosenberg, Adrian Moise, Michael Przybylski, Helmut Cölfen: Growth of Organic Crystals via Attachment and Transformation of Nanoscopic Precursors.

DOI: 10.1038/ncomms15933

Faktenübersicht:

  •  Unterstützung durch das Zukunftskolleg der Universität Konstanz
  • Kooperation mit der Xiamen University, China, und BASF SE Ludwigshafen